Wie Prognoseverfahren funktionieren und helfen
Ein Gespräch mit Torsten Oldhues, Geschäftsführer Operations bei HAVI Deutschland, und Dr. Jens König, Principal Consultant bei io.
Mal ganz konkret: Wie helfen Prognoseverfahren beim Steuern und Betreiben eines Logistikzentrums?
JK: Man kann beispielsweise Auftragseingänge und entsprechend die Kommissionierlast prognostizieren. Ebenso Wareneingänge und die Absatzzahlen einzelner Artikel. Über die prognostizierte Arbeitslast lässt sich auch der Personaleinsatz bestimmen. Der reale Nutzen ergibt sich jedoch nicht durch die Prognose an sich, sondern daraus, wie man die Erkenntnisse umsetzt.
Und wie helfen sie beim Planen der Supply Chain für Restaurants aus der Systemgastronomie?
TO: Genau so. Im Wesentlichen schließt man aus der Vergangenheit auf die Zukunft. Gut prognostizieren lassen sich alle Verkaufsprodukte, deren Absätze stabil und nicht volatil sind.
Wie funktionieren Vorhersagealgorithmen? Kann man das einfach erklären?
JK: Im Grunde versucht man, eine mathematische Funktion zu finden, die möglichst gut eine gegebene Zeitreihe abbildet. Die Fortschreibung der Funktion in die Zukunft ist die Prognose.
Ein Beispiel: Ein Artikel kommt jeden Tag in fünf Bestellungen vor, mit einer Stückzahl von jeweils zehn pro Bestellung.
Als Funktion dargestellt ist das eine waagrechte Linie. Jeder Mensch und jeder Algorithmus kann daraus schließen, dass in den nächsten Tagen auch fünf Bestellungen à zehn Stück aufgegeben werden. Im realen Leben gibt es allerdings Schwankungen statt Linien. Man versucht, diese Schwankungen in Perioden und Zyklen zu packen und vorherzusagen. Klassische Schwankungen wie das Sommerloch werden gut identifiziert. Es gibt verschiedene Verfahren zum Nachbilden solcher Zyklen. Die „lernenden“ Verfahren ermitteln das für die gegebene Zeitreihe passendste Verfahren mit den besten Parametern.
Man versucht also, die gegebene Zeitreihe möglichst gut durch eine mathematische Funktion abzubilden. Ist eine gute Funktion gefunden, wird über diese die Vorhersage berechnet. Moderne Prognosen sind im Grunde Mathematik und Statistik gepaart mit der automatisierten Suche nach einer guten Lösung.
Es gibt also nicht das eine Prognoseverfahren?
JK: Nein, es gibt verschiedene Verfahren zur Abbildung der Schwankungen, der Ausnahmen oder der Spitzen – oder zu der Art, wie Algorithmen die beste Lösung finden. Man muss das richtige Verfahren für die gegebene Problemstellung ermitteln. Je nach Dynamik der zugrunde liegenden Zeitreihe kann sich das beste Verfahren auch im Laufe der Zeit ändern. Es ist daher sinnvoll und wichtig, von Zeit zu Zeit zu prüfen, ob man noch das optimale Modell nutzt oder ob ein anderes eventuell besser funktioniert.
Principal Consultant bei io
Business Units: Operations Management, Analytics & Optimization, (KI-basierte) Analytic für Produktion und Logistik, Advanced Dashboarding, datengetriebene Kontrolle und Steuerung von Logistikzentren, Operations-Management.
Haben Sie Fragen? Dr. Jens König hilft gerne weiter:
Geschäftsführer HAVI Logistics GmbH
Seit 2013 ist Torsten Oldhues Geschäftsführer für den Bereich Operations in Deutschland. Seit 2021 verantwortet er zusätzlich den Bereich Supply Chain Operations Westeuropa.
Haben Sie Fragen? Torsten Oldhues hilft gerne weiter:
TO: Richtig. Auch wir pflegen unser Planungssystem kontinuierlich. Wir nutzen die Advanced Planning Software JDA und setzen ausschließlich auf das MLR-Verfahren. Seine Implementierung im kompletten Markt hat etwa ein bis zwei Jahre gedauert. Das Forecast System, um das es im vorangestellten Artikel geht, nutzt in dieser Form übrigens nur unser Kunde McDonald's – und dabei auch nicht jeder einzelne Franchise-Nehmer. Unsere Kunden kommen vornehmlich aus dem Bereich der Systemgastronomie. Durch die unterschiedliche Komplexität im System sowie die unterschiedlichen Ansprüche der Kunden auf eine stetige Verfügbarkeit aller Produktangebote ist es für die meisten unserer Kunden zu aufwendig und zu kostenintensiv. Vielen reicht eine Bedarfsplanung, die rein auf Vergangenheitsdaten basiert, üblicherweise aus.
Wann geraten Prognoseverfahren und Rechenmodelle an ihre Grenzen?
JK: Schwierig ist das Prognostizieren selten auftretender Extremereignisse wie beispielsweise die Effekte der Corona- Lockdowns. Hier sahen wir bei manchen Kunden den völligen Einbruch des Geschäfts. Bei anderen wiederum gab es einen starken Peak wegen der schlagartigen, starken Zunahme des Online-Handels. Solche Effekte wird kein Prognosemodell aus den reinen Zeitreihen erkennen. Um sie zu identifizieren, muss man nach vorauslaufenden Indikatoren schauen oder andere externe Ereignisse einbinden – was die Entwicklung und Pflege der Prognosemodelle aufwendig macht.
TO: Bezogen auf die Systemgastronomie erwähne ich gern das im Artikel vorgestellte Reisebus-Beispiel. Ich sagte ja, dass bei entsprechenden Statistiken über Reisebusse nichts herauskäme. Denn selbst wenn man irgendwie alle Busreisen erfasst sowie valide Verkehrsprognosen und Prognosen über das Pausenverhalten von Busfahrern vorliegen hätte, weiß man beispielsweise immer noch nicht, welche Raststätte der Busfahrer für eine Pause ansteuert.
Gibt es Unterschiede zwischen verschiedenen Branchen?
JK: Den Prognoseverfahren sind Branche und Inhalte vollständig gleichgültig. Es sind eher die Eigenschaften des zugrunde liegenden Sachverhalts, die dazu führen, dass etwas gut oder schlecht prognostizierbar ist. Unsere Kunden beispielsweise schauen oft nach den Extrempunkten: auf die Tage mit unerwarteten Spitzen, an denen alle im Logistikzentrum zu kämpfen hatten. Diese Ereignisse sind unserer Erfahrung nach schlecht bis gar nicht prognostizierbar, da sie eben sporadisch auftreten.
TO: Wir haben die gleiche Erfahrung gemacht und daher einen internen S&OP-Prozess etabliert. Die einzelnen Fachbereiche stimmen sich im Vorfeld ab und bereiten sich gemeinsam auf kritischere Phasen im Jahr vor, die schwer zu prognostizieren sind.
Wo sind Bedarfsprognosen einfach und wo schwieriger oder gar unmöglich?
JK: Damit eine Prognose gut funktioniert, müssen prognostizierbare Muster in Datenreihen vorhanden sein. Das bedeutet: Zuerst muss eine ausreichend große statistische Anzahl an – zum Beispiel – Artikeln mit Verbräuchen gegeben sein, damit der Ansatz grundsätzlich funktioniert. Weiterhin ist es hilfreich, wenn es gewisse regelmäßig erkennbare Muster oder Trends gibt. Kommen bestimmte externe Ereignisse oder Einflussfaktoren wie Feiertage oder das Wetter zum Tragen, kann man solche Informationen in das Prognosemodell integrieren, um das Ergebnis gegebenenfalls zu verbessern.
Ferner bedarf es einer Datenlage zur Analyse und zur Entwicklung des Prognosemodells. Dies ist allerdings bei einem Artikel, der neu auf den Markt kommt, nicht gegeben. Es werden dann Ersatzartikel oder Artikelgruppen herangezogen, von denen man annimmt, dass sie sich ähnlich verhalten. Wie gut diese Annahme war, erkennt man jedoch erst nach einer gewissen Zeit.
Wichtig ist auch, sich immer über die notwendige Auflösung der Prognose klar zu sein: sollen es Stunden, Tage, Wochen oder Monate sein. Oft reicht es auch, das Verhalten von Artikel- oder Kundengruppen zu prognostizieren, um zum notwendigen Ergebnis zu gelangen.
Der Weg hin zu einem guten Prognosemodell ist daher ein iterativer Vorgang. Man fängt mit einer Ausgangsdatenanalyse und einem Training des Modells an, dann setzt man es – gegebenenfalls probeweise – ein, beobachtet das Modellverhalten und die erzielte Prognosegüte und verbessert es, etwa durch Hinzunahme weiterer Faktoren oder Änderungen von Parametern. In dieser Zeit entsteht im besten Fall eine Art Vertrauen in das Modell und die Nutzer erfahren das Verhalten. Sind die Ergebnisse ausreichend gut und ist allen Beteiligten vertraut, wie das Modell wann reagiert, kann es gut eingesetzt werden. Nun liefern aktuelle Prognosemethoden bereits erstaunliche Ergebnisse, wie HAVI ja auf beeindruckende Weise zeigt.
Gibt es trotzdem noch Luft nach oben?
TO: Luft nach oben gibt es immer. Natürlich ruhen auch wir uns nicht auf Erfolgen aus. Aktuell befassen wir uns beispielsweise mit der Implementierung eines KI-basierten Forecast Systems.